KINDER OPTIMAL FÖRDERN MIT MUSIK
Ergebnisse einer sechsjährigen Langzeitstudie über Wirkungen von Musik und Musizieren auf die Entwicklung 6- bis 12-Jähriger. Hans Günther Bastian: Es gibt keine Zweifel mehr: Musik und Musizieren bereichern die Lebensqualität und die Lebensfreude unserer Kinder und fördern sie in einem nicht vermuteten Ausmaß. Was erfolgreiche Musikerzieher schon immer wussten, wird nun durch Ergebnisse einer empirischen Studie repräsentativ bestätigt.
Die Schlussbilanzen der zwischen 1992 und 1998 an sieben Berliner Grundschulen durchgeführten Untersuchung(1) des Einflusses von erweiterter Musikerziehung (Musikunterricht + Instrumentenlernen + Ensemblespiel) auf die allgemeine und individuelle Entwicklung von Kindern fordern bildungsprogrammatisch, dass alle Kinder in den Grundschulen aller Bundesländer die Chance erhalten, ein Instrument zu lernen und in einem Ensemble ihrer Wahl zu musizieren. In diesem Artikel sollen einige ausgewählte Ergebnisse der Studie vorgestellt werden.
1. Soziale Kompetenz:
Seit Beginn des Instrumentenlernens und des gemeinsamen Musizierens ist der Anteil der Kinder, die im Klassenverband eine oder mehr Positivwahlen erhalten (Soziogramm: Den Schüler mag ich gerne) in der Modellgruppe(2) über alle Grundschuljahre hinweg kontinuierlich und deutlich höher als in den Kontrollgruppen. Zu allen Schuljahrsenden liegt die Sympathie-Quote über 90 %. Dies bedeutet, dass es in musizierenden Grundschulklassen weniger häufig ausgegrenzte Schüler gibt.
Sensationell sind die Ergebnisse im Ablehnungsbereich: Der Anteil der Kinder, die keine einzige (!) Ablehnung erhalten (Soziogramm: Den Schüler mag ich nicht), ist in der Modellgruppe über alle Messzeitpunkte bedeutsam höher als in der Kontrollgruppe und zwar im allgemeinen doppelt so hoch (z.B. nach dem 4. Schuljahr erhalten 62% der Kinder in der Modellgruppe keine einzige Ablehnung vs. 34% in der Kontrollgruppe).
Umgekehrt formuliert: Die Quote der einfach und mehrfach geäußerten Antipathien ist in nicht musizierenden Grundschulklassen nahezu kontinuierlich doppelt so hoch wie in Musikklassen. Ensemble-Musizieren, sei es in der Familie, in der Schule oder in der Laienmusik, fordert und fördert das Miteinander-Schaffen, das Voneinander-Lernen, das Aufeinander-Zugehen, das Füreinander-Da-Sein in der gemeinsamen Verantwortung für das Gelingen des Ganzen.
Die fundamentalen sozialen Für-, Mit-, Von-, Auf- und Zu- Bezüge sind Merkmale und Bedingungen einer lebendigen häuslichen und gesellschaftlichen Gemeinschaft.
2. Musik öffnet den Menschen:
Keine Frage: Musik ist die sozialste aller Künste, ein Kontaktmedium par excellence. In Anlehnung an Nietzsche können wir festhalten: Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum. Der Umgang mit Musik “öffnet” den Menschen zum Mitmenschen. Sozialethische Werte und eine sensible moralische Sozialisierung müssen in der Erziehung junger Menschen dringend einen neuen Stellenwert bekommen.
Im Schüttelbecher dieses Jahrhunderts sind nämlich viele ehemals gesicherte Werte suspekt, in Frage gestellt und dann unsicher geworden. Wozu brauchen wir noch Werte, wenn wir den DAX haben, und (zu) viele Kinder schauen auf die Marke und nicht mehr auf die Mark. Wertbegriffe der philosophischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts wie Autonomie, Humanität, Toleranz, Sachlichkeit, Klarheit, die Erziehung weltweit bestimmten, scheinen vielfach bedroht.
Psychische Macht der Musik gegen physische Gewalt!: Unser Appell: Musik und insbesondere eigenes Musizieren sind “eine” soziale Chance in der Pro- und Metaphylaxe von Aggressionen unter Kindern und Jugendlichen, wirken also gewaltpräventiv. Wir sollten unserer Gesellschaft, d.h. nichts anderes als uns selbst eine Chance geben und gegen die physische Gewalt die psychische Macht der Musik setzen.
Ein Versuch wäre es allemal Wert, würde man im späteren Alter hohe Ausgaben in kostspielige soziale Resozialisierungsmaßnahmen und Psychiatrien sparen. Der Schweizer Theologe Leomhard Ragaz brachte es auf den Punkt, wenn er zeitgeistig pointiert: Der Geist der Gewalt ist so stark geworden, weil die Gewalt des Geistes so schwach geworden ist.
Zur Intelligenzentwicklung: Bereits für 6-7jährige Kinder stellen wir einen monoton-steigenden Zusammenhang zwischen musikalischer Begabung und Intelligenz fest. Mit höherem Musikalitätswert steigt auch der Intelligenzquotient (= IQ). Damit bestätigen sich für eine frühe Altersstufe solche Forschungsergebnisse, die einen Zusammenhang von Musikalität und Intelligenz konstatieren. Beide Stichprobengruppen entwickeln sich – bezogen auf ihre IQ-Mittelwerte nach einem kulturunabhängigen Intelligenztest – in den ersten Jahren ihrer Grundschulzeit zunächst nicht sehr unterschiedlich.
Nach 4 Jahren “erweiterter” Musikerziehung kommt es jedoch zu einem signifikanten IQ-Zugewinn bei Kindern aus musikbetonten Grundschulen (IQ-Mittelwert Modellgruppe 111 vs. Kontrollgruppe 105). Kinder aus der Modellgruppe, die bereits zu Projektbeginn überdurchschnittliche IQ-Werte erreicht haben, steigern diesen kognitiven Begabungsvorteil nochmals signifikant deutlicher als Kinder aus der Kontrollgruppe.
Sozial benachteiligte und in ihrer kognitiven Entwicklung weniger geförderte Kinder (mit unterdurchschnittlichem IQ) profitieren ebenso vom Umgang mit Musik. Sie legen über die Jahre hinweg in der Tendenz kontinuierlich zu, was für unterdurchschnittlich kognitiv begabte Kinder ohne dieses Treatment nicht so bilanziert werden kann. Dies ist das sozialpolitisch relevanteste Ergebnis aller IQ-Befunde. Warum dürfen wir einen positiven Zusammenhang zwischen Intelligenz und Musik vermuten?
Vom Blatt-Spielen erfordert die schnelle und gleichzeitige Verarbeitung von Informationen in extremer Fülle und Dichte (Noten, Takt, Tempo, Lautstärke, Agogik, usw.). Abstraktes und komplexes Denken sind beansprucht, auch im Voraus- und Nachhören der Musik zum gerade gespielten Takt. Bei keinem anderen Fach, bei keiner anderen Tätigkeit muss ein Kind so viele Entscheidungen gleichzeitig treffen und diese kontinuierlich über solche Zeitstrecken hinweg abarbeiten.
Diese Kombination von konstanter, kontinuierlicher Achtsamkeit und Vorausplanung bei ständig sich verändernder geistiger, psychischer und physischer Beanspruchung konstituiert eine erzieherische Erfahrung von einzigartigem und daher unverzichtbarem Wert. Musik ist stets ratio, emotio und motio in einem Aneignungsprozess.
Anders gesagt: Ein Instrument zu spielen ist eine der komplexesten menschlichen Tätigkeiten. Schon bei einfachsten Stücken werden Fähigkeiten des Intellekts (Begreifen), der Grob- und Feinmotorik (Greifen), der Emotion (Ergreifen) und der Sinne beansprucht. Die präzise Koordination der Hände und Finger auf Saiten oder Tasten verlangt eine ausgeprägte Feinmotorik und räumliches Vorstellungsvermögen (Ergebnisse der neueren Hirnforschung bestätigen diese Befunde)(3).
Wenn aber Musikerziehung die Intelligenz vor allem auch kognitiv weniger entwickelter Kinder vorteilhaft fördern kann, dann folgt daraus: Bildungspolitik mit Musik ist die beste Sozialpolitik! Eltern, die ihre Kinder in ihrer Entwicklung optimal fördern wollen, und wer wollte dies nicht, sollten ihre Jüngsten möglichst früh ein Instrument lernen lassen – und zwar das Wunschinstrument des Kindes selbst.
3. Konzentration:
Für die Gesamtstichprobe heutiger Grundschulkinder lässt sich bilanzieren, dass die Fähigkeit zur konzentrierten Wahrnehmung von der 1. bis zur 6. Klasse im Trend eher nachlässt, was sicher auch auf zunehmende Umwelt- und insbesondere Medieneinflüsse zurückgeführt werden kann.
Erfreulich ist die Bilanz für Lehrer aller Fächer: In der Modellgruppe gibt es weniger schwache und weniger extrem schwache Konzentrationsleistungen als in der Kontrollgruppe. Dies bedeutet, dass das Musizieren besonders Kindern mit hohen Konzentrationsdefiziten interventiv und kompensativ helfen kann.
4. Musikalische Begabung/ Leistung/ Kreativität:
Wie nicht anders zu erwarten war: Kinder der musikbetonten Grundschulen schneiden in allen musikalischen Begabungs-, Leistungs- und Kreativitätstests über die Zeit hinweg besser ab als Kinder aus der Kontrollgruppe.
Lernübertragungen des Umgangs mit Musik erfolgen zunächst immanent auf höhere Fähigkeiten und Fertigkeiten im eigenen Fach (vertikale Transfereffekte), auf eine verbesserte musikalische Kompetenz.
Die Bilanz, dass Kinder der musikbetonten Grundschulen ihren Vorsprung im Merkmal “musikalische Begabung/ Leistung/ Kreativität” im Verlauf ihrer Grundschule im Vergleich zu Kindern der Kontrollgruppe signifikant steigern können, bedeutet, dass diese “Musikalisierung” in ein und demselben Lernprozess zugleich all jene Persönlichkeitsvorteile fördert, die die Studie als überzufällige Transfereffekte nachweisen kann. Somit liegt ein positiver, sich selbst verstärkender Zirkel vor.
5. Angst – Emotionale Labilität:
Die meisten Kinder können, und dies unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit, überdurchschnittliche Angstwerte im Verlaufe ihrer Grundschulzeit erfreulicherweise deutlich abbauen. Dies spricht zugleich für ein vertrauensvolles Schulklima. Schüler der Kontrollgruppe glauben jedoch von sich selbst, über die Zeit hinweg eher ängstlicher geworden zu sein, während Kinder der Modellgruppe meinen, allgemeine Ängste besser reduzieren zu können.
Sozial benachteiligte und in ihrer kognitiven Entwicklung weniger geförderte Kinder, gerade und insbesondere in der Phase der beginnenden Pubertät mit all ihren Identifikationsproblemen. Welch hohe sozialtherapeutische Funktion der Musik zukommt, wissen wir aus nahezu allen Jugendkulturen. Jugend und Musik sind in ihnen eine Lebenseinheit, Musik wird zum integralen Lebensexistential.
Dies bedeutet in positiver Interpretation: Instrumentlernen und Musizieren “neurotisiert” unsere Kinder trotz Übens, musikalischer Leistungserwartung und öffentlichem Musizieren nicht auffällig oder gar bedeutsam. Sie leiden nicht unter stärkeren Angstsymptomen oder ausgeprägter emotionaler Labilität (“Neurotizismus”), die in Untersuchungen mit Berufsmusikern immer wieder repliziert wurden.
6. Allgemeine Schulleistungen:
Musikbetonung bedeutet an Berliner Grundschulen für alle Schüler zusätzliche Zeitinvestitionen bis in die Nachmittagsstunden, so im Erlernen eines Instrumentes, im Üben, im Ensemblespiel oder in der Vorbereitung von Aufführungen.
Ein geradezu sensationelles und für Eltern/Erziehungsberechtigte wichtiges Ergebnis: Der erhebliche Zeitaufwand geht ganz eindeutig nicht zu Lasten der allgemeinen schulischen Leistungen. Zu keinem Erhebungszeitpunkt sind die Leistungen der Kinder aus der Modellgruppe in den sogenannten “Hauptfächern” schlechter als die der Kinder aus der Kontrollgruppe.
Der prozentuale Anteil der Kinder mit überdurchschnittlich guten Leistungen ist in der Modellgruppe oftmals höher als in der Kontrollgruppe. Dies gilt für die Fächer Mathematik, Deutsch und Englisch. Hier bestätigen wir Ergebnisse, wie sie auch in der sogenannten Schweizer Studie vorliegen(4).
Daraus ist für Eltern und Erzieher stringent zu folgern: Lasst Eure Kinder musizieren, trotz und gerade wegen schulischer Durststrecken! Ein Abmelden vom Instrumentalunterricht wäre für die kindliche Entwicklung in kognitiver und emotionaler Hinsicht geradezu kontraproduktiv!
Was folgt daraus?
Fachpolitische Konsequenzen: Ergebnisse und Erkenntnisse dieser Studie fordern eine engagierte(re) Bildungs- und Schulpolitik, die in unseren allgemein bildenden Schulen das Fach Musik vom Rand in die Mitte (H. R. Laurien) rückt und eine Kulturpolitik, die das förderliche Umfeld der Laienmusik stärker als bisher anerkennt und demzufolge auch fördert.
Das muss zunächst heissen: Alle Schüler erhalten in allen Bundesländern neben einem mindestens zweistündigen Musikunterricht die Chance, in der Schule ein Instrument (wenn möglich ihrer Wahl) zu erlernen und in einem Ensemble in oder ausserhalb der Schule zu musizieren.
Die Folge kann sein: Aus dem schulischen Musizieren wird ein privates Musizieren, das eine ganze Familie infizieren kann. Wir warten also ungeduldig auf den Musik-Virus in unseren allgemein bildenden Schulen, die den Nährboden bereiten für das Musizieren in unseren Familien und Laienmusikvereinen.
Den Autor würde es freuen, wenn alle Kultusminister die Ergebnisse und Erkenntnisse der Studie “Musikerziehung und ihre Wirkung” (Schott Verlag, Mainz) für gute Argumente gegen kulturabstinente Finanzminister (= Sparminister) nutzen könnten.
Plädoyer für Musik!
Die schlichte Botschaft lautet daher: Politiker, Eltern, Lehrer, lasst unsere Kinder musizieren! Und sie tun dies nicht um der sozialen oder kognitiven Nebenwirkungen wegen, sondern ausschließlich um ihrer selbst willen, aus Freude an der Musik und an der eigenen Begabung.
Musik hat ihren primären Wert nur in sich selbst, sie ist als ästhetische Erfahrung absolut zweckfrei, ja ganz nutzlos. Und genau das macht sie so wertvoll! (nach Oscar Wilde). Wo immer wir Kinder fordern und fördern wollen, wo immer wir Verantwortung für ihre Entwicklung tragen, sollte Musik mit ihrem Geist-, Gefühls-, Kreativitäts- und Sozialpotential ins Spiel kommen. Wir brauchen sie, die Musik, heute dringender denn je!
Quellen
(1) Hans Günther Bastian: Musikerziehung und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz: Schott Musik International 2000, unter Mitarbeit von Adam Kormann, Roland Hafen, Martin Koch; eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse ist als Taschenbuch erschienen: Hans Günther Bastian: Kinder optimal fördern – mit Musik, Atlantis – Schott, Mainz 2001
(2) Modellgruppe = Klassen mit erweiterter Musikerziehung/ Kontrollgruppe = Klassen mit konventionellem Musikunterricht
(3) Vgl. u.a. die Beiträge von H. Petsche, E. Altenmüller/W. Gruhn/D. Parlitz in: Scheidegger, J./Eiholzer, H.: Persönlichkeitsentfaltung durch Musikerziehung, CH-Aarau 1997; W. Gruhn: Der Musikverstand, Hildesheim 1998; H. Petsche (Hrsg.): Musik-Gehirn-Spiel, Basel 1989; M. Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart New York 2002; vgl. auch die Forschungsarbeiten von M. Hassler, N.Bierbaumer, G. Schlaug u.a. (siehe ausführliche Bibliografie in der Studie: Musik(erziehung) und ihre Wirkung).
(4) Weber, E. W./Patry, J.-L./Spychiger, M.: Musik macht Schule, Essen 1993.
Autor
Professor Dr. Hans Günther Bastian
Goethe-Universität Frankfurt
Institut für Musikpädagogik