Demgegenüber dürften bei der Erarbeitung eines noch unbekannten zeitgenössischen Werkes oder beim Improvisieren mit neuen modalen Mustern vorwiegend heuristische Denkstrukturen benötigt werden. Die Beziehung, die zwischen den beiden Intelligenzformen besteht, charakterisiert Dörner als konträr.

Ein gut ausgeprägtes Wissen in einem Bereich (beispielsweise Handlungswissen als epistemische Struktur) macht heuristische Strukturen in diesem Bereich entbehrlich.

„Nimmt man an, daß die heuristische Struktur in ihrer Entwicklung und der Aufrechterhaltung ihrer Strukturiertheit von Übung abhängig ist, so könnte eine Fortentwicklung der epistemischen Intelligenz indirekt Ursache der Verkümmerung der heuristischen Intelligenz sein“ (Dörner). Daraus ist zu schließen, daß die Aktivierung der epistemischen Struktur nicht gleichermaßen auch heuristische Strategien anregt und entwickelt.

Vielmehr scheint die einseitige Favorisierung einer Intelligenzform durch entsprechende Aufgaben die Verkümmerung der anderen nach sich zu ziehen. Vielleicht läßt sich mit Hilfe dieser Annahme das häufig zu beobachtende Phänomenerklären, daß Schüler und Studenten, deren Ausbildung sich lange Zeit einseitig an Kunstmusik orientiert hat, und die dann Improvisieren im Jazzbereich lernen wollen, oft die Problemfälle der Lehrer an Jazzschulen sind.

Der Versuch, die „verkümmerte“ musikalische „Intelligenzform“ des Improvisierens im nachhinein zu entwickeln, wird offensichtlich durch eine vorangegangene lange und einseitig auf Reproduktion ausgerichtete Ausbildung erschwert. Sollte sich diese Annahme bestätigen, hätte sie weitreichende Folgen für instrumentaldidaktische Überlegungen:

Um auf lange Sicht den reproduktiven und produktiven Umgang mit Musik zu ermöglichen, müßten im Instrumentalunterricht von Anfang an beide „Intelligenzformen“ musikalischer Tätigkeit angeregt und trainiert werden, d. h. reproduktives und improvisatorisches Spielen sollten komplementär entwickelt werden.

 

Zielbildung und Aufmerksamkeit als Handlungsregulation

Neben den Überlegungen Dörners bieten sich auch handlungstheoretische Ansätze von W. Volpert für einen Transfer auf die musikalische Wahrmehmungsverarbeitung an. Er entwickelt ein neunstufiges Modell der Aufgabenkomplexität, das durch unterschiedliche Zielbildungsaspekte von „geschlossen“ bis „offen“ strukturiert ist.

Für die ersten sechs Stufen des Modells ist charakteristisch, „daß der Anfangsund Endzustand, als Start und Ziel der Handlung, genau definiert ist“ (Volpert).

Bei den weiteren Stufen ergeben sich neue Komplexitätsgrade durch die Offenheit des Anfangs- und Endzustands. Die Art der Zielbildung lenkt wiederum die Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte einer Aufgabe. Daraus folgt, daß auch die Aufmerksamkeit strukturierend auf die Art der Handlungs- bzw. Lösungsstrategien wirkt.

Wenn beispielsweise beim Erlernen eines Klavierstückes die Aufmerksamkeit auf die formalen Strukturen des Stückes gelenkt wird, konzentrieren sich die Lösungsstrategien auf gedächtnismäßig repräsentiertes Wissen und auf Vergleichsakte.

Wird beim gleichen Stück die Aufmerksamkeit auf den Stimmungsgehalt oder auf eine bildliche Übertragung gelenkt, werden eine Reihe fluktuierender Lösungsstrategien aktiviert, weil für die Lösung dieser Aufgabe unterschiedlichstes, auch außermusikalisches Material zu Verfügung steht. Auch Volperts Modell der Aufgabenkomplexität könnte für Überlegungen zur Instrumentaldidaktik bedeutsam sein.

Um ein möglichst breites Spektrum an Zielbildung und Aufmerksamkeit anzuregen, müssen sowohl „geschlossene Aufgaben“ (Reproduktion von Musikstücken) als auch „offene Aufgaben“ (Improvisation und Komposition) in einem ausgewogenem Verhältnis gestellt werden.